Aus dem NZZ Interview mit Feldman:
«Ich bin ein sehr verzweifelter Mensch», sagt Deborah Feldman.
Sie wuchsen in Williamsburg auf, in der radikalorthodoxen Gemeinschaft der Satmarer.
Ich schlief in unterschiedlichen Zimmern, wurde von Tante zu Tante herumgereicht.
Nachdem meine Mutter mich zur Welt gebracht hatte, erlebte sie eine postnatale Depression. So wurde das zumindest in der Gemeinde erzählt.
Wenn junge Frauen Probleme machten oder Verhaltensauffälligkeiten zeigten, gab man ihnen starke psychotrope Medikamente, um sie ausser Gefecht zu setzen.
Das hatte man auch mit meiner Mutter gemacht. Das bedeutete: Sie konnte sich nicht um mich kümmern.
Erst später bin ich zu meinen Grosseltern gezogen
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...Wenn Sie sich als Mädchen sehen, was sehen Sie da?
Ein kleines verwirrtes Kind, das nichts versteht. Ich habe die ganze Zeit versucht, in der Welt, in der ich gelebt habe, einen Sinn zu erkennen.
Sie haben die neunziger Jahre popkulturell verpasst, weil Sie in einer abgeschlossenen Welt lebten: ...Haben Sie das nachgeholt?
Nein, weil ich es eh nie geschafft hätte
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Haben Sie von Ihrer Grossmutter Liebe erfahren?
Sie hat keine Liebe gezeigt. In meiner Familie wurde man weder geküsst noch umarmt. Ich wurde nie gelobt, nur dann, wenn ich nicht anwesend war.
Aber wir verbrachten viel Zeit miteinander.
...Irgendwann verstand ich, dass es der beste Ort war, um ihr Geschichten zu entlocken, denn beim Kochen war sie abgelenkt und wurde redselig.
Was wollten Sie von ihr wissen?
Dinge über meine Herkunft, auch über den Krieg, aber das war riskant, weil ihre Laune umschlagen konnte. Diese Küche, das war der Lieblingsort meiner Kindheit.
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Gab es Jungs, in die Sie sich als Kind verliebten?
Nein. Ich wollte eher von älteren Mädchen bemerkt werden, weil ich für sie geschwärmt habe.
Es gab eine Frau in der Gemeinschaft, die ich aus der Ferne bewunderte. Sie war anders als die anderen.
Ich wusste, dass sie gerne Bücher las.... Später wurden wir beide Lehrerinnen & verbrachten viel Zeit zusammen.
Ich war sehr glücklich, dass ich endlich eine Freundschaft eingehen konnte, die zwar kurz war, aber so innig wie nie mehr danach. Kurz darauf wurden wir beide verheiratet.
Was hat die Ehe mit Ihrer Freundschaft gemacht?
Ihr Mann verbot es ihr, mich zu treffen. Er fand, dass mein Mann nicht streng genug sei mit mir und ich deshalb einen negativen Einfluss auf sie ausüben könnte.
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Welche Gefühle haben Sie heute für Ihren Ex-Mann, mit dem Sie verheiratet wurden?
Erleichterung, dass auch er einen glücklichen Lebensweg gehen konnte. Er ist auch ausgestiegen.
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Welche Rollen spielten Frauen in der Gemeinschaft?
Frauen besetzten Machtpositionen gegenüber anderen Frauen, vielleicht agierten sie im Interesse der Männer, ich weiss es nicht.
...Sie hatten die Macht, zu petzen....
Deshalb habe ich früh gelernt, niemandem zu vertrauen & keine Freunde zu haben. Ich wusste: Du hast entweder Geheimnisse oder Freundschaften, beides geht nicht.
...Als Kind erhält man eine strenge Predigt. Ist man älter, wird man ausgeschlossen oder «gefroren»....
«Gefroren»?
Wenn niemand mit einem redet und niemand anerkennt, dass man existiert.
Ein Liebesentzug.
Es gab keine Liebe, also konnte man sie nicht entziehen. Es ist der Entzug der eigenen Existenz. Du fragst dich, ob es dich überhaupt noch gibt.
Vieles wird schambehaftet gewesen sein. Wofür haben Sie sich geschämt?
Dass ich einen Körper hatte, der sich anders entwickelte und verhielt, als von der Gemeinde vorgesehen war.
Sie litten unter Vaginismus – einer Verkrampfung des Beckenbodens –, weshalb Sie kaum Geschlechtsverkehr haben konnten.
Ja, und er verschwand mit der Geburt.
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Ich habe vor Jahren über Frauen in Tunesien gelesen, die ihre ersten Kinder als Jungfrauen bekamen, weil die Schwangerschaft ohne Penetration passiert war.
Vaginismus scheint insbesondere in sehr konservativen und religiösen Kulturen verbreitet zu sein.
Was macht das mit den Menschen, wenn alles Sexuelle unterdrückt wird?
Man hat keine Beziehung zum Körper und fühlt sich von seinem physischen Selbst abgespalten.
Das Problem entsteht, wenn man seinen Körper in der Ehe plötzlich einsetzen muss.
Denn die Unterdrückung der Sexualität bedeutet, dass der Körper ausgeschaltet wird. Und ihn über Nacht wieder einzuschalten, ist emotional unmöglich.
...in dem Moment, in dem ich mein Kind sah, hatte ich einen hormonellen Rausch und wusste: Ich werde gehen.
Sie hatten vor der Geburt nicht an Flucht gedacht?
... Erst als ich meinen Sohn in den Armen hielt, wusste ich, dass er anders aufwachsen sollte als ich. Es gab jetzt plötzlich einen Grund.
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Wie haben Sie sich nach Ihrer Flucht gefühlt...?
Die Flucht fand erst 3 Jahre nach der Geburt meines Sohnes statt. Als ich mich entschieden hatte, auszusteigen, schmiedete ich einen Plan:
Ich brauchte Verbindungen zur Aussenwelt, deshalb begann ich mit einer Ausbildung.
Ich musste Geld sparen, eine Wohnung finden und einen Anwalt,
damit ich das Sorgerecht für mein Kind behalten konnte.
Zu denken, dass ich es schaffen würde, war größenwahnsinnig
Eines Abends fuhr ich auf der Autobahn zurück aus der Uni, als mein Pneu platzte und mein Auto sich überschlug.
Nach dem Aufprall war mein erster Gedanke: Das ist die Strafe Gottes, weil ich Pläne hatte, auszusteigen. Beim zweiten Aufprall fand ich es komisch, dass ich noch immer nicht tot war.
Und als ich nach dem dritten und letzten Aufprall aus dem Fenster kroch, dachte ich: Vielleicht war es eine Warnung? Ich fragte Gott: Gibst du mir noch eine Chance, brav zu sein?
Als mir der Arzt später ...sagte, ich hätte Glück gehabt, es sei nichts gebrochen, lächelte ich und dachte: ...Gott wollte mir sagen, dass ich alles überleben werde und morgen gehen kann.
Am nächsten Tag war ich weg. Ich hatte auf ein Zeichen gewartet.
Brauchte es Mut, um zu gehen?
Verzweiflung. Mein Grad an Verzweiflung führte dazu, dass ich es schaffte, zu fliehen.
Verzweiflung ist eine Kraft.
Ich bin oft verzweifelt, und dann merke ich, dass es mir Kraft gibt. Ich bin ein sehr verzweifelter Mensch.
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Sie sagten einmal in einem Interview, man sehe es Ihrer Körperhaltung an, dass Sie orthodox aufgewachsen seien. Können Sie das ausführen?
Es fällt mir schwer, meinen Rücken gerade zu strecken
weil man dort, wo ich herkomme, die Brust nicht rausschieben darf.
Meine Schultern hängen nach vorne.
Das fiel mir erst auf, als ich in Berlin in die Sonnenallee zog & viele türkische & arabische Frauen sah, die genau so herumliefen. Ich habe mich in ihnen erkannt.
Ich knicke oft ein, weil es mir eingeimpft wurde, mich als Frau klein und unauffällig zu geben.
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Sie haben in Ihrer Kindheit wenig Liebe erfahren. War Ihr Sohn Ihre erste Liebe?
Meine erste Liebe war meine Grossmutter. Mit meiner Therapeutin habe ich einmal über Traumata gesprochen.
Bis zu dem Zeitpunkt dachte ich, gewisse tragische Ereignisse müssten zwingend traumatisierend sein.
Sie aber erklärte mir, dass das nicht stimme, und sagte etwas, das mich schockierte: Nicht jede Vergewaltigung wird von einer Frau als traumatisierend empfunden.
Wenn die Frau aus einer gesunden Familie stammt, viel Unterstützung bei der Aufarbeitung erhält, dann kann sie wieder ein normales Leben führen.
Ich habe mich oft gefragt, ob meine Erlebnisse für mich traumatisierend waren, was aber nicht sein muss, weil mich meine Grossmutter geliebt hat. Wer eine solche Liebe spürt, der hat die Ressourcen, alles zu überstehen.
In der Vorbereitung für dieses Gespräch haben wir eine These entwickelt, die Sie vielleicht nicht gerne hören wollen. Sie haben Angst vor der Liebe, weil Sie Angst haben vor der Hingabe.
Ich bin aber in der Liebe sehr hingebungsvoll. Also habe ich diese Angst überwunden.
Was bedeutete Liebe, bevor Sie ausbrachen aus der Sekte, was bedeutet sie heute?
Damals war Liebe das, was ich mit meiner Grossmutter teilte, auch wenn wir es uns nicht zeigten.
Und heute bedeutet Liebe für mich bedingungsloses Vertrauen.
Wenn ich jemandem vertrauen kann, und die andere Person vertraut mir, dann denke ich: Das ist Liebe.
Können Sie vertrauen?
Ich musste vertrauen lernen, aber inzwischen kann ich es. Es war eine bewusste Arbeit, dafür braucht es die richtige Person.
Ich habe aus purer Überlebensnot einen Radar entwickelt für vertrauenswürdige Menschen.
Woran haben Sie am meisten in der Therapie gearbeitet?
Was mir am schwersten fiel: meine Massstäbe für mich selbst aufzuweichen.
Meine Therapeutin findet, ich könne für mich keine Barmherzigkeit aufbringen. Finde ich nicht so schlimm.
Dabei ist das doch wichtig, die Selbstliebe.
Finden Sie? Ich mag mich schon, aber ich habe keine Barmherzigkeit für mich. Ich bin gerne streng mit mir, weil ich mich gerne erziehe.
Leidet Ihr Sohn unter Ihrer Vergangenheit?
...Es gibt wissenschaftliche Belege dafür, dass wir uns daran erinnern können, wenn beispielsweise ein Ahne von uns gehungert hat.
Die Körper unserer Urenkelkinder können sich an den Hunger erinnern.
Ich habe das von meinen Grosseltern geerbt und mein Sohn auch, wir haben ein besorgtes Verhältnis zum Essen.
Aber ich glaube auch, dass ich ihm direkt etwas weitergegeben habe.
Als wir geflüchtet sind, lebten wir lange Zeit in einer prekären Lage.
Ich war überfordert, habe versucht, ihn abzuschirmen, aber er hatte Schwierigkeiten, mich loszulassen, und schlief immer in meinem Bett.
Man kann bei ihm heute noch grosse Angst auslösen, die oft unbegründet ist.
Wenn er so reagiert, denke ich oft:
Das muss die alte Angst der früheren Jahre sein, als er miterlebte, wie alles zusammenbrach.
Sie wirken nicht ängstlich.
Oh, das bin ich aber.
Wovor haben Sie Angst?
Ich habe keine Angst vor dem Scheitern, aber vor Katastrophen und dem Ende der Welt.
Was bedeutet Ihnen Ihr Jüdischsein?
...Was heisst es..., jüdisch zu sein? Und wenn es gar nichts heisst, bedeutet das mindestens, dass es etwas ist, was sich nicht abstreifen lässt.
Das Christentum kann man abstreifen, aber das Jüdischsein ist etwas Ungreifbares, nicht unbedingt eine Religion, aber auch keine Kultur, sondern schwer definierbar.
Das ist der Grund, warum ich auf eine grössere Frage verweise: Inwiefern verfügen wir über unsere eigenen Identitäten, und inwiefern werden sie uns von aussen zugeschrieben?
Und was heisst das in Bezug auf die Identitätspolitik, die wir so feiern, wenn Individuen eigentlich in Kategorien aufgelöst werden, so dass ihre Individualität kaum spürbar ist?
Könnten Sie sich vorstellen, Bücher zu schreiben, die nicht von jüdischen Themen handeln?
Ich kann nur über das schreiben, was ich erlebt habe.
Wenn ich ein Buch über Buddhisten in Indonesien schriebe, würde sich das nicht richtig anfühlen.
Der Punkt ist nicht, dass ich mich vom Judentum lossagen will, aber ich will die Freiheit, zu bestimmen, was Jüdischsein für mich bedeutet.
Ich will keine Erwartungen erfüllen müssen, und ich will auch nicht, dass mein Jüdischsein mein Hauptidentitätsmerkmal ist.
Ich bin erst Mensch und danach Jüdin auf individuelle Art. Aber das ist in Deutschland schwierig.
Weshalb?
Das Land schafft es nicht, den jüdischen Pluralismus auszuhalten. Es unterscheidet zwischen guten und schlechten Juden und Pseudo-Juden.
Ich will dieses System der Einstufungen sprengen, weil es einen differenzierten Blick auf Israel verunmöglicht.
...
Sie bezichtigen Leute, sich mit dem Judentum zu schmücken wie mit einem Kostüm, weil sie sich im schuldbewussten Deutschland Vorteile erhoffen.
Was soll das?
Eine lange Geschichte. Ein Grund ist, dass es ein ungeschriebenes Abkommen gibt in Deutschland, worüber man redet und worüber man schweigt.
Zum Beispiel, dass sehr viele Personen in der Öffentlichkeit, die jüdisch auftreten, fragwürdige Ansprüche an das Judentum haben.
Es gibt dubiose Konvertiten, Menschen, die sich einen jüdisch klingenden Namen zulegen und so tun, als wären sie Juden. ...
Alles gut, aber was daran ist so schlimm, dass Sie sich derart über diese Menschen aufregen?
Es geht um den Philosemitismus, die Kehrseite des Antisemitismus.
Mit «Judenfetisch», dem Titel meines Buches, meine ich eine übertriebene Liebe zum Judentum, die aber eigentlich missbräuchlich ist.
Ich glaube, dass Juden & Deutschland in einer toxischen Beziehung verharren, von der viele profitieren, weil sie eine gewisse Bequemlichkeit mit sich bringt.
Wer diese Beziehung kritisiert, wie ich, gilt als Störenfried.
Was ist mit euch beiden, hasst ihr mich auch?
Bereuen Sie es nicht, dass Sie ...manchmal über das Ziel hinausschiessen? Sie stellen Leute an den Pranger.
...der Unterschied ist, dass ich nun die Leute, die seit langem dafür zuständig sind, andere an den Pranger zu stellen, selbst an den Pranger stelle
wobei das bei mir immer etwas ironisch ausfällt.
Quelle
Feldman Interview der NZZ mit Sacha Batthyany, Rafaela Roth 10.06.2024